Geschichte. Zweite Gemeinde

Geschichte. Zweite Gemeinde

Anfang und Aufbau (1861 – 1933). 
Eine Folge der Liberalisierung der Gesetzgebung war eine zahlenmäßige Zunahme der in der Stadt wohnenden Juden:

Jahr 1813 1836 1848 1852 1861 1867 1875 1885 1905 1910 1930
Personen   126   97     79   128   283   449   889 1156 1101 1212 1030

Die Mehrheit zog in Augsburg aus der näheren Umgebung und aus den kleinen Siedlungen des südlichen als auch des mittleren Schwabens zu. Die jüdische Gemeinde hat sich in Augsburg zur Mitte des 19. Jahrhundertes neu gebildet. Gemeinsame Gebete wurden 1808 im Haus des Bankiers Jakob Obermeier durchgeführt.

Eine Beschränkung der Anzahl jüdischer Familien in Augsburg gab es bis 1861. Zu dieser Zeit hat die Zahl der Gemeindemitglieder das Minimum von 50 Personen, die für die Registrierung der religiösen Vereinigung notwendig waren, übertroffen.

Die Dokumente über die Gründung der jüdischen Gemeinde in Augsburg werden im Staatsarchiv in Augsburg ausgewahrt.

Am 5. Oktober 1861 wurden der Entwurf der Gemeindesatzung und andere Dokumente der Stadtverwaltung und am 11. Oktober der „königlichen Regierung Schwabens und Neuburgs“ überreicht. Kurz darauf wurden die Registrierung der Gemeinde, die Gemeindesatzung und die Anstellung eines Rabbiners genehmigt.

Anzeigen in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 31.3.1884 und in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ vom 4.10.1895. http://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/a-b/283-augsburg-bayern

Der Beginn der offiziellen Existenz der zweiten Jüdischen Gemeinde Augsburgs ist der 18. November 1861.

1865 wurde in der Wintergasse das Gebäude der neuen Synagoge gebaut. Zwei Jahre später hat die Gemeinde das Grundstück für den Friedhof an der Haunstetter Strasse erworben. 1897 wurde hier das Gebäude für Trauerrituale gebaut. (Während des Weltkrieges wurde das Gebäude zerstört; seine Wiederherstellung nach dem Entwurf des jüdischen Architekten Herman Tsvi Gutman von 1961 – 1962 war das erste große Bauprojekt der Nachkriegsgemeinde.)

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundertes hatte die vorwiegend katholische Bevölkerung wenig Verbindungen zu Juden: es gab praktisch keine gemeinsamen jüdisch-christlichen Unternehmen, Juden arbeiteten nicht in christlichen Banken. Mitte des Jahrhunderts begann die Lage sich zu ändern. Die Organisation der neuen Herstellungsmethoden brauchte Geld – die jüdischen Großhändler und die Bankiers wurden zu erwünschten Partnern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Juden wichtige Positionen in Industrie und Handel eingenommen. Von den Gemeindemitgliedern spielten mehr als 50 Personen eine führende Rolle bei der Entwicklung der Industrie Augsburgs. Die jüdischen Unternehmen waren wichtige Arbeitgeber für die Bevölkerung der Stadt. Am Anfang des I. Weltkrieges besaßen die jüdischen Bankiers ganz oder teilweise ungefähr 20 Banken in der Stadt. Sie besaßen eine führende Stellung im Textilhandel (bis zu 75 %). Über 160 Menschen arbeiteten in der Zeit von 1870 bis 1914 in den 47 führenden jüdischen Handelsunternehmen der Stadt. Der Augsburger Bankier Arnold Seligman und sein in München lebender Bruder Solomon von Stahl waren Mitbegründer der Bayrischen Hypotheken- und Wechselbank, deren Kredite und Darlehen zu einer finanziellen Grundlage der Entwicklung des Immobilienmarktes in Augsburg wurden. Jüdische Unternehmen machten von 1871 bis 1914 fast 40 % der Handelshäuser, fast 30 % der Banken und knapp 10 % der Industrieunternehmen aus.

Viele Juden in Deutschland leisteten große Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaft, der Industrie, der Künste, des Sports. Ein Beispiel dafür ist Helmut Rumpler, der österreichische Ingenieur, der Pionier der Luftfahrt. Eine der Straßen Augsburgs trägt seinen Namen. 1908 hat er in Berlin die erste Produktionsstätte für Flugapparate in Deutschland gegründet. 1910 wurde nach seinen Plänen das Flugzeug „Rumpler- Taube“, mit einem 8-Zylinder Motor gebaut. Während des ersten Weltkrieges hat der Betrieb 350 Flugzeuge hergestellt. 1916 wurde in Augsburg eine Filiale des Unternehmens, welche 1919 nach der Schließung des Werkes in Berlin selbständig wurde, eröffnet. 1926 übersiedelten die Bayerischen Flugzeugwerke, die 1938 in die Messerschmitt AG umgewandelt wurden, nach Augsburg. (Heute ist das Werk Teil des Luftfahrt-Riesen Premium AEROTEC). Bei Rumpler gab es auch viele andere Entwicklungen. Zum Beispiel das erste stromlinienförmige Auto, den ersten Kotflügel; das erste Auto mit Heckmotor und viele weitere Dinge.

Das religiöse Leben (Reformismus). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertes wurden die Juden gleichberechtigte und sehr angesehene Mitglieder der sich dynamisch entwickelnden Gesellschaft. Die jüdischen Kinder strebten nach Bildung. Zum Beispiel war zwischen 1877 – 1890 in der Kreisoberrealschule (heute Holbein-Gymnasium) jeder zehnte Schüler Jude.

Das Streben, die Unterschiede zur sie umgebenden Welt zu verringern, hat zur Suche nach möglichen Veränderungen des Judentums geführt. Der Wunsch nach radikalen Veränderungen bei der Durchführung der Riten hat zur Entstehung des Reformjudentums geführt. Seine Anhänger waren der Ansicht, dass aus den synagogalen Riten viele veraltete und durch den jahrhundertlangen Aufenthalt in Ghettos entstandene Zeremonien entfernt werden sollten. Danach könne das Judentum eine bedeutendere Stellung in der modernen Welt einnehmen. Gegen beliebige Veränderungen im Ritual sind die Orthodoxen aufgetreten, die der Meinung waren, dass der Bruch in einem Glied der Traditionen alle Grundlagen des Judentums gefährden würde.

Solche Diskussionen wurden auch in der Augsburger Gemeinde geführt. Zu Pessach 1865 hat die Synagoge auf Wunsch der Mehrheit der Gemeindemitglieder eine Orgel (die erste in Bayern und eine der ersten in Deutschland) gekauft. Konservative und sehr religiöse Gemeindemitglieder waren dagegen, aber alles ist friedlich geregelt worden. Es gelang, die Spaltung der Gemeinde in einen orthodoxen und einen reformierten Teil, wie es in München und Nürnberg geschah, zu verhindern. (1910 haben etwa 40 Juden in Kriegshaber eine offiziell nicht registrierte orthodoxe Gemeinde gegründet, die fast 30 Jahre existiert hat und von den Nazis zerstört wurde.)

1870 begann in München die Arbeit der zweiten jüdischen Synode, die ihre Arbeit in Augsburg im Goldenen Saal des Rathauses fortgesetzt hat. Für die Gemeinde war dies ein großes Ereignis, das die Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses bestätigte.

Den Bau der Synagoge in der Halderstraße. Die Gemeinde wuchs. 1910 gehörten ihr 1217 Menschen an. Die Notwendigkeit eines neuen Gebäudes wurde ab 1870 besprochen, aber der Baubeginn fand erst Anfang des 20. Jahrhunderts statt. Aktiv unterstützte den Neubau der Magistrat, für den sich das Prestige der Stadt neben dem Bahnhof, dem Theater, dem Justizpalast und der Bibliothek auch auf das Vorhandensein einer repräsentativen Synagoge stützte.

Zwischen der Stadt und der Bahnstation der Linie Augsburg – München, die 1840 gebaut wurde, gab es in der Halderstrasse brach liegendes Gebiet und Gärten. Dort wurde ein Grundstück gekauft. 1912 wurde ein Wettbewerb zum „Bau der Synagoge mit Verwaltungs- und Dienstgebäuden“ ausgeschrieben, zu dem 47 Entwürfe eingingen. Der erste Preis ging an Doktor Heinrich Lompel und den Ingenieur Fritz Landauer (der spätere Bauleiter). Der Bau begann am 30. April 1914. Die seitlichen Verwaltungsgebäude und die Stahlbetonkuppel waren schon errichtet, als der I. Weltkrieg begann.

Das Interesse der Gemeinde am Bau der Synagoge ist vor Sorge um das Schicksal des Vaterlandes für einige Zeit erlahmt. Am 4. August 1914 wurde in der Synagoge auch um Segen für die deutschen Waffen gebetet. 1914 sind 254 Gemeindemitglieder (davon 29 Freiwillige) in die Armee eingetreten. 174 Menschen waren an der Front, 163 haben Auszeichnungen bekommen, 24 (etwa 2 % der Gemeindemitglieder) sind umgekommen. Die Gemeinde hat die Gefallenen nicht vergessen. Im Hof der Synagoge befindet sich eine Gedenktafel aus Metall mit der Darstellung einer Menora und den Zahlen „1914 – 1918“. Auf beiden Seiten des Eingangs zum Vorraum des Festsaales sind auf Marmortafeln die Namen der 24 gefallenen Gemeindemitglieder verewigt. Auf dem jüdischen Friedhof gibt es eine Gedenkstätte aus 3 Stelen mit den Nachnamen der Gefallenen und auch einige ihrer Grabsteine.

Der Bau wurde trotz der besonderen Umstände fortgesetzt. Das Gebäude der neuen Synagoge wurde in drei Jahren errichtet. Der prächtige Innenraum ist mit orientalischen Elementen und jüdischer Symbolik ausgestattet. Die Elemente der Ausstattung betonen die Verbindung mit der nahen Stadt. Am Eingang zum Hof sieht man ein Mosaik mit der allegorischen Kombination des Stadtwappens (Pinienzapfen oder Zirbelnuss) in Kombination mit dem sechseckigen Davidstern. Über dem mittleren Portal des Eingangs befindet sich die steinerne Darstellung des Gemeindesiegels aus dem 13. Jahrhundert.

            https://de.wikipedia.org/wiki/Synagoge_(Augsburg)#/media/Datei:Alte_Synagoge_in_Augsburg.jpg

Im Großen Saal mit 800 Plätzen sieht man über dem Balkon für die Orgel Medaillons zur Ehre der großen Feiertage (Pessach, Sukkot, Jom Kippur, Rosch ha-Schana und Schawuot). An der Brüstung des Balkons sind 6 Medaillons mit den Emblemen der 12 Stämme Israels angebracht. An 4 Säulen befinden sich 6-eckige Medaillons mit symbolischen Bildern: „Theorie der Religion“, „Praxis der Religion“, „Ethik der Religion“ und „Wirkung der Religion“ und Texten aus der Heiligen Schrift und dem Talmud. Über den Säulen thront wie das Himmelsgewölbe die Sternenkuppel mit einem Durchmesser von 27 Metern. In den Seitengebäuden gibt es einen Hochzeitssaal, das rituelle Bassin (Mikwe), Verwaltungs- und Diensträume, Wohnungen für den Rabbiner, den Kantor, die Synagogendiener und den koscheren Metzger. Der Rabbiner hat das neue Gebetbuch vorbereitet und eine Festschrift („Ein Gang durch die Geschichte der Juden in Augsburg“, Doktor Richard Grünfeld, 1917) herausgegeben.

Die Architekten, die Ingenieure und die Bauarbeiter wurden mit bayrischen Orden ausgezeichnet. Am 4. April 1917 wurde das majestätische Gebäude in Anwesenheit zahlreicher Gäste feierlich eingeweiht. Mit Rücksicht auf die schwere Zeit und den Lebensmittelmangel im Land hat die Gemeinde auf ein Bankett verzichtet und 1000 Mark für den Fonds der städtischen Lebensmittelhilfe gespendet.

In der liberalen Gemeinde wurden die Gebete in deutscher Sprache gelesen und von den Tönen der Orgel begleitet. Bei der Einweihungszeremonie wurden nur die Gebete über die Tora-Rollen auf Hebräisch gesprochen.

Die Gemeinde entwickelte sich weiter. In der Religionsschule lernten etwa 80 Kinder. Über 100 Kinder lernten in den Schulen der Stadt. In der Gemeinde gab es Dutzende von Gesellschaften und Vereinigungen: der 1873 gegründete Wohlfahrtsverein, der Krankenpflegeverein, der Beerdigungsverein; der Verein für Volkserziehung; der Verein für Hauspflege; Verein für Jugendfürsorge und viele weitere. Die Gemeindemitglieder nahmen am Leben verschiedener Organisationen und Vereine der Stadt aktiv teil: beim Handelsgericht, der Handelskammer und dem Finanzgericht München, im Kommerzverein, der Literarischen Gesellschaft, dem Kunstverein, in Sportvereinen und vielen anderen Organisationen.

Ungeachtet der zahlreichen Erscheinungsformen des Antisemitismus, war die überwiegende Mehrheit der Gemeindemitglieder (wie auch die Mehrheit der in Deutschland wohnenden Juden) Patrioten und bezeichneten sich als „Deutsche jüdischen Glaubens“. Deutschland war für sie die Heimat. Die Gemeinde hat zusammen mit dem ganzen Land nach dem Krieg die Inflation in den 20er Jahren und die Arbeitslosigkeit Anfang der 30er Jahre erlebt. Die Mehrheit der Gemeindemitglieder unterstützte die demokratischen Umgestaltungen und trug zur Gründung der Weimarer Republik bei. Im Land waren viele politische Extremisten Juden. Aber die jüdische Gemeinde unterstützte die kurzlebige „Räterepublik“ nicht.

Die ersten Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die in den Stadtrat Augsburgs gewählt wurden, waren die Herren Rosenbusch und Heimann. Die jüdischen Abgeordneten arbeiteten über 30 Jahre im Stadtrat mit. Im Januar 1933 waren von 50 Mitgliedern des Stadtrates 4 Juden, 4 Kommunisten und nur 3 Anhänger der NSDAP.

Die Mehrheit der Gemeindemitglieder war in den mittleren und höchsten Schichten der Gesellschaft vertreten. 1933 besaßen Juden vollständig oder teilweise mehr als 170 Unternehmen in Augsburg. (Darunter 20 Fabriken, 55 Großhandelshandelsfirmen, 51 Einzelhandelsgeschäfte, etliche Banken und Vertretungen.) Von 244 Banken in der Stadt gehörten über ein Drittel Juden. Hauptsächlich waren sie in den neuen Gewerbezweigen wie Spinnereien und der Bekleidungsherstellung tätig. Sie waren die Marktführer bei der Herstellung von Konfektionskleidung, der Produktion spezieller Stoffe, der Produktion von Textilien (ungefähr 15 % der Unternehmen). Im Lederhandel, dem Viehhandel, dem Hopfenhandel und dem Handel mit Textilwaren überstieg der Anteil der jüdischen Unternehmen 75 %. Ebenso ist wichtig, die Rolle der Juden bei der Herstellung kostbarer Gegenstände aus Gold und Silber zu erwähnen. Jüdische Kultgegenstände, die seit dem Mittelalter von Augsburger Meistern hergestellt worden waren, wurden 1930 auf einer Ausstellung in München gezeigt.

Es muss erwähnt werden, dass bei den Gemeindemitgliedern keine ungesetzlichen Zustände, wie beim Aufbau des Kapitalismus in Amerika, oder der Privatisierung in der ehemaligen UdSSR vorkamen. Alle Unternehmen waren ein organischer Teil des industriellen Komplexes der Stadt und der Länder und gaben zehntausenden Menschen Arbeit.

1925 hatte die Gemeinde mit 1203 Mitgliedern die höchste Mitgliederzahl (etwa 1 % der Bevölkerung der Stadt) erreicht. Die Synagoge war ein Zentrum des jüdischen öffentlichen Lebens. In der Gemeinde wurden die Riten des jüdischen Lebens durchgeführt: die Beschneidung (Brit Mila), die Volljährigkeitfeier (Bar und Bat Mizwa), Hochzeiten (Chuppa). Gebete wurden täglich gehalten. Zu den hohen Feiertagen kamen fast alle, aber der Saal bot nur 800 Menschen Platz. Daher wurden Eintrittskarten ausgegeben. Aktiv wurde aufklärende und kulturelle Arbeit geleistet. Jährlich wurde bis 1936 ein jüdischer Kalender herausgegeben. In der Synagoge gab es zu Beginn der 30er Jahre einen Kindergarten, in den auch viele deutsche Familien ihre Kinder brachten.

Antisemitismus. Die Verstärkung von sozialen und politischen Widersprüchen und eine Reihe anderer Gründe haben zur Entstehung von extremistischen Bewegungen geführt. Wieder galten die Juden als Urheber allen Übels; um 1880 entstand ein neuer Terminus dafür – der Antisemitismus war geboren. Einige Parteien und Vereinigungen benutzten den Antisemitismus als Teil der ideologischen und politischen Plattformen. Bedeutend für das Aufkommen des Antisemitismus war die Niederlage Deutschlands im I. Weltkrieg. Die Zahl der Siege im Osten und die fehlende Besetzung Deutschlands durch ausländische Armeen am Ende des Krieges vor der Unterzeichnung der demütigenden Kapitulation hat zum Verdacht der Käuflichkeit der Führung durch den „internationalen Zionismus“ geführt. Die immensen Reparationszahlungen und der Ausbruch der weltweiten Wirtschaftskrise verursachten Ende der 20er Jahre die Verarmung weiter Bevölkerungsschichten. Aus diesem Grund wurde im Januar 1919 in Deutschland die Deutsche Arbeiterpartei gegründet, die im Jahr darauf in NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei) umbenannt wurde.

Im Januar 1921 hat Hitler Augsburg zum ersten Mal besucht und über das Thema „Die Zukunft der Arbeiter in Deutschland“ gesprochen (Parteivorsitzender wurde er im Juli desselben Jahres). Am 27. Januar 1922 wurde in Augsburg eine Ortsgruppe der NSDAP, die ca. 60 Menschen zählte, gegründet. Im folgenden Jahr waren es schon 200 (darunter 90 SA-Männer). Die erste Zeit beschränkten sie sich auf Märsche durch die Straßen der Stadt mit antisemitischen Parolen und Liedern. Schon 1923 gab es in Augsburg eine Abteilung der SA. In Juli 1924 wurde der jüdische Friedhof an der Haunstetter Straße geschändet – über 20 Grabsteine wurden zerstört und umgeworfen. Im Juli 1930 wiederholte sich dies. Anfang Februar 1931 kam in der Stadt die faschistische Zeitung „Neue Nationalzeitung“ heraus. In einer der ersten Nummern war ein Boykottaufruf abgedruckt: „Die Mitglieder der Partei und die Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung kaufen nicht bei Juden! „. (10 betroffene Geschäftsinhaber haben sich an das Gericht gewendet, das diesen Aufruf getadelt hat.) Nach der Machtergreifung 1933 wurde die Partei zur Massenbewegung.

Das Ende der zweiten Gemeinde. Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler, den Führer der nationalsozialistischen Partei, zum Reichskanzler. Am 1. Februar wurde der Reichstag aufgelöst und die vollständige Machtergreifung begann. Sofort wurden Gesetze zur Diskriminierung der Juden geschaffen und der Staat verwandelte sich in ein totalitäres Gebilde. Im März 1933 wurde in der Nähe von München das erste Konzentrationslager (КZ) Dachau gebaut. Im Oktober 1933 ist Deutschland aus dem Völkerbund ausgetreten. Gleichzeitig begann offen die Wiederaufrüstung der Streitkräfte.

Am Morgen des 9. März 1933 ist Gauleiter Karl Wahl mit einer Gruppe seiner Partei in das Rathaus der Stadt Augsburg eingedrungen. Die Macht in Augsburg ging auf die Nazis über. In der Stadt begann die „Nationale Revolution“ und der Terror gegen die politischen Gegner. Im Laufe von zwei Wochen wurden ungefähr 100 Menschen (Führer und Aktivisten der kommunistischen Partei und der sozialdemokratischen Partei) verhaftet.

Das Nazi-Regime wurde von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt. Die demagogische Überlegung der Schaffung eines „völkischen Staates“ wurde durch spürbare Verbesserungen des Lebensstandards in Deutschland, welche der nationalsozialistischen Politik zugeschrieben wurden, unterstützt. Nach der Machtergreifung haben die Nazis durch staatliche Bauprogramme (zum Beispiel: Autobahn) und die Militarisierung der Industrie die Arbeitslosigkeit herabgesetzt. Später raubte das Reich die annektierten und eroberten Länder aus. Während des Krieges bekamen die durch Bombenangriffe geschädigten Bewohner beschlagnahmtes jüdisches Eigentum und durch die Deportationen jüdischer Bürger frei gewordene Wohnungen. Ernüchterung und das Bewusstsein der Unabwendbarkeit der Strafe kamen erst spät.

Am 1. April 1933 wurde von den Nazis als erste antijüdische Aktion ein landesweiter Boykott jüdischer Geschäfte durchgeführt. Drei Tage zuvor, am 28. März, war in der „Neuen Nationalzeitung“ die Überschrift zu lesen: „Jetzt beginnt der Kampf gegen die Juden!“ Am 31. März hat der NSDAP-Ortsgruppenleiter Schneider ein „Komitee zur Durchführung des Boykottes von jüdischen Geschäften, Waren, Ärzten und Anwälten“ ins Leben gerufen. In Augsburg wurde gefordert, 43 große Handelsunternehmen, die Juden gehörten, zu boykottieren. Um Kritiker mundtot zu machen, war vom 30. März bis 4. April die Redaktion der Neuen Augsburger Zeitung geschlossen. Ein erstes Opfer wurde das große Handelshaus Landauer im Stadtzentrum (bis zu 200 Arbeitsplätze, Umsatz von etwa 10 Millionen RM). Das Cafe im Erdgeschoß und „Das jüdische Restaurant“ mit koscherer Küche im dritten Stockwerk des Gebäudes waren Zentren des jüdischen Lebens der Stadt. 1934 wurde das Handelshaus A. Golisch vermietet und 1939 zwangsweise „arisiert“. Bis Ende 1933 wurden 11 jüdische Geschäfte und 14 Unternehmen geschlossen, und 4 Geschäfte und 7 Unternehmen sind in „arisches“ Eigentum übergegangen. Vielen Unternehmen wurde die Unterstützung durch Banken verweigert, und sie mussten deshalb verkauft werden. Von 1934 – 1939 wurden zwei Drittel der jüdischen Unternehmen (etwa 120) geschlossen, die übrigen verkauft. In 170 Firmen wurden Juden als Mitbesitzer ausgeschlossen. Im Januar 1939 war nur ein jüdisches Restaurant (in der Bürgermeister – Fischer-Straße 11) geblieben.

Ein bedeutender Schritt, den Juden die elementaren Menschenrechte zu entziehen, war die Annahme der rassistischen „Nürnberger Rassegesetze“ im Jahr 1935. Die große Anzahl von gemischten Ehen mit nicht jüdischen Partnern (die meisten in Europa) hat dazu geführt, dass 1935 von der halben Million der Bevölkerung in solchen Ehen bis zu 70 % Juden waren. Nach Einschätzungen der Historiker hatten fast 400.000 Deutsche enge Familienbande mit Juden (wenn die Eltern Juden waren, galten die Kinder oder die Enkel als Juden).

Ab September 1935 wurden bis September 1937 im ganzen Land 348 antijüdische Gesetze und Verordnungen herausgegeben. Ab September 1937 bis zum November 1938 („Kristallnacht“) weitere 1234. Zwischen der „Kristallnacht“ vom 9.11.1938 und dem Beginn des II. Weltkrieges am 1.09.1939 wurden über 200 Verordnungen (fast jeden Tag zwei neue Verbote) veröffentlicht. Die Juden waren in ihren Rechten erheblich eingeschränkt, ihr Leben wurde unerträglich.

Die jüdische Gemeinde kümmerte sich um die Menschen. Die Bedeutung der Synagoge änderte sich. Hier bekamen die Leute Hilfe und Ratschläge zur Emigration. Nachdem die jüdischen Kinder von den öffentlichen Schulen der Stadt ausgeschlossen worden waren, hat Fritz Levi eine Klasse mit 28 Kindern organisiert, in der alle Fächer unterrichtet wurden. Fast alle jüdischen Kinder besuchten den privaten Kindergarten von Gertrud Dann in den Räumen der Synagoge (deutschen Kinder war der Besuch untersagt). Im Juni 1935 hat die Gemeinde in der Stadt ein Sportfest mit 600 jungen jüdischen Männern durchgeführt. Von 1935 – 1937 wurden zusammen mit der zionistischen Vereinigung Bet Chaluz Kurse für Menschen, die nach Palästina emigrieren wollten, organisiert. Jugendliche aus ganz Deutschland lernten in einem Haus in der Friedbergerstrasse die jüdische Sprache, Landwirtschaft und Handwerke. In der Umgebung der Stadt organisierten sie zwei Lager. In der Gemeinde gab es viele arme ältere Leute. Schwierig war die Frage der Organisation des Altersheimes und der Fürsorge für alte und bedürftige Gemeindemitglieder. Die Gemeinde hat ein Wohnhaus in der Frohsinnstrasse erworben. Im Sommer 1938 wohnten 32 Alte in dem Haus. Nach der „Kristallnacht“ im November 1938 wurden alle Bewohner innerhalb weniger Stunden daraus verjagt. Das Altersheim hat nicht einmal ein Jahr existiert.

Nachdem die Registrierung der jüdischen religiösen Vereinigungen gesetzlich aufgehoben war, wurden sie in private Gesellschaften und Vereine umgewandelt.

Ab dem 28. März 1938 hat die Jüdische Gemeinde Augsburgs offiziell nicht mehr existiert. Das, was weiter geschah, kann man Agonie nennen. Am 30. September 1938 ist in der „Neuen Augsburger Zeitung“ die Mitteilung erschienen: „In Augsburg gibt es keine jüdischen Ärzte mehr“, und am Tag darauf „Ganz Schwaben ist frei von jüdischen Ärzten“. Die volle Gesetzlosigkeit in Bezug auf die Juden fing nach dem von den Regierenden organisierten Pogrom der „Kristallnacht“ an. Während seines Besuches in Augsburg im Jahr 2005 hat der Sohn des letzten Rabbiners der Gemeinde vor dem Krieg Doktor Ernst Jakob erzählt, dass vor dem Gebet am letzten Freitag vor dem Pogrom (am 4. November) der Vater zum ersten Mal alle offen zur Emigration aufgerufen hat. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er gehofft und wollte niemand herausfordern. Die Ereignisse der Nacht hat Sofie Dann, die Tochter des Vorstandes der Synagoge ausführlich beschrieben. Am 10. November sind in der Nacht 20 bis 30 junge Männern (in Zivil), ausgerüstet mit Stangen, Äxten und Keulen gewaltsam in die Synagoge eingedrungen, haben die Telefonleitung durchschnitten und begonnen, die Dokumente zu zerstören. Im Grossen Saal zerschlugen sie Leuchter und die heiligen Gegenstände, einschließlich der Tora-Rollen. Kurz danach stieg Qualm auf und Brandgeruch machte sich breit. Um 4 Uhr am Morgen löschte die Feuerwehr den Brand wegen der Sicherheit der umgebenden Gebäude und der nahegelegenen Tankstelle. Die Durchsuchungen (bei denen viele Dinge gestohlen wurden), die Zerschlagung des Inventars und die Verhöre der Juden dauerten mehrere Tage. Die Juden wurden danach der Zerstörung der Telefonleitung und der Brandstiftung bezichtigt. Obwohl das Gebäude intakt wirkte, war es im Innern schwer beschädigt. Einige Juden wurden gezwungen Talit anzulegen, Zylinder aufzusetzen und einen Lkw mit Tora-Rollen, Büchern, Tales zu beladen und darüber Kohl aufzuschichten. Alles wurde in das bereits geschlossene Altersheim in der Frohsinnstrasse gebracht. In dieser Woche wurden 319 Juden im Alter bis zu 70 Jahren aus der Stadt in das Lager Dachau gebracht, wo sie über einen Monat geblieben sind.

Sehr schnell wurden die Juden ihres Eigentums beraubt. Emigranten mussten eine „Fluchtsteuer“ bezahlen, die dem Reich bis zum März 1937 186 Millionen Reichsmark einbrachte. Am 12. November 1938 wurde den Juden Deutschlands eine Sondersteuer von einer Milliarde RM auferlegt. Im Sommer 1939 waren die Juden die ärmste Bevölkerungsgruppe des Landes. Die Gesamtsumme des geraubten jüdischen Eigentums betrug etwa 8,426 Milliarden Reichsmark.

Am 30. April 1939 ist der Beschluss über die Übersiedlung der 550 in Augsburg verbliebenen Juden aus „arischen“ in „jüdische“ Häuser in Kraft getreten. In der Umgebung der Synagoge wurden ca. fünfzehn solcher Häuser ausgewählt. Ab September 1941 waren die Juden Deutschlands verpflichtet, an der Kleidung vorn und hinten einen gelben sechszackigen Stern zu tragen. In Augsburg trugen 29 Kinder den Stern.

Als Höhepunkt des Kampfes gegen Juden hat SS-Obergruppenführer Heydrich bei der Wannsee-Konferenz verkündet: „Die Endlösung der «Judenfrage» ist die biologische Vernichtung der Juden“. Am 27. November 1941 wurden die ersten Juden Schwabens (über 20 Menschen) nach Osten deportiert und im Wald bei Kaunas erschossen. Insgesamt rollten 1941 – 1942 sieben Transporte mit 450 Menschen aus der Stadt in die Vernichtungslager. Im September 1944 wohnten in der Stadt noch 57 Juden in Mischehen (13 von ihnen wurden im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert.) Von Juli 1942 bis zum Februar (!) 1945 sind noch 4 Transporte gefahren. Insgesamt wurden aus der Gemeinde der Stadt und aus der Umgebung 613 Menschen deportiert. Die physische Existenz der jüdischen Gemeinde Augsburgs war beendet.

Die Gemeinde der Stadt Augsburg, wie auch tausende anderer Gemeinden Europas, ist im Feuer der Katastrophe umgekommen. Von 1030 Juden der zweiten Gemeinde Augsburgs konnten nicht einmal 600 Menschen in andere Länder (davon 35 Menschen nach Palästina) ausreisen.

Auf dem Friedhof an der Haunstetter Straße befinden sich Gräber von Gemeindemitgliedern, die sich vor der Deportation das Leben genommen haben: Paul Englander mit Frau, Ludwig Friedman mit Frau und andere. Sie werden nicht wie Selbstmörder angesehen, sondern als Märtyrer respektiert. Auf einigen Grabsteinen stehen die Nachnamen der Menschen, die nach Auschwitz, Piaski, und in andere Vernichtungslager deportiert wurden. Das genaue Todesdatum fehlt auf diesen Steinen. 1950 wurde am Eingang eine Gedenkstätte für die 6 Millionen Juden, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, errichtet.

Welche Leute umgekommen sind, wird am Beispiel eines Gemeindemitgliedes, das sich vor dem Krieg retten konnte, sichtbar. 1933 war der 20-jährige Ernst Kramer Mitbegründer des Vereins der deutsch-jüdischen Jugend (sein Vater Martin Kramer hatte in den 30er Jahren zusammen mit Brecht die „Augsburger Literarische Gesellschaft“ gegründet). Nach dem Pogrom der „Kristallnacht“ war Ernst 6 Wochen lang im Konzentrationslager Buchenwald interniert. 1939 gelang es ihm, nach Amerika zu emigrieren. Mit vielen Bemühungen und großen Anstrengungen bekommt Kramer die Erlaubnis zur Einreise der Eltern und des Bruders nach Amerika. Aber viel zu spät – die Ausreise aus Deutschland war mittlerweile verboten. Die Eltern und der Bruder wurden deportiert und ermordet.

Kramer ist 1945 mit der amerikanischen Armee zurückgekehrt. Nach dem Krieg hat er sich mit Journalistik beschäftigt und großen Erfolg gehabt, wurde Professor, Doktor, Stellvertreter des Zeitungsmagnaten Springer, Träger des Bundesverdienstkreuzes, Ehrenbürger der Stadt Augsburg und erhielt eine Reihe weiterer ehrenvoller Auszeichnungen und Titel. Am 27. Januar 2006 war Kramer Hauptredner bei der Sitzung des Bundestages, die dem Gedächtnis der Opfer des Holocausts gewidmet war. Viele Jahre, solange es seine Gesundheit erlaubte, kam er regelmäßig nach Augsburg. Am 1. September 2005 hat er bei der Feier zum 20-jährigen Jubiläum der Wiederherstellung der Synagoge über das Hauptziel der Reise erzählt:

„Ich sehe Sie vor mir, aber das Bild scheint sich zu verändern. Es tauchen andere Gesichter, besonders die der ehemaligen Mitglieder dieser Gemeinde auf. Statt Ihnen sehe ich Ihre Mütter und Väter, Ihre Großmütter und Großväter. Viele Bekannte sitzen in diesem majestätischen Raum. Dort unten saß Eugen Strauss, der Vorsitzende der Gemeinde. Auf dieser Seite war der Platz meines Vaters; dort oben der meiner Mutter. Hier saßen links die Rabbiner, der Doktor Richard Grünfeld und später Doktor Ernst Jakob. An den beiden Seiten die Plätze für die Kantoren Steinfeld und Hyman. Rechts saß würdevoll und fest die Ordnung in der Synagoge garantierend der Schammes Albert Dunn. An den Seiten saßen wir, die Kinder.

Von oben ertönte der Chor, es erklang die prächtige Stimme von Edith Buxbaum: «…ich weiß, an wen ich glaube, und wo mein Retter wohnt …» – ihr Gesang war sehr aufwühlend.“

Bei jedem Besuch setzte sich Ernst auf den Platz seines Vaters im Parkett und stieg später auf den Balkon hinauf und saß einige Zeit an der Stelle, wo seine Mutter einst gebetet hatte.

Nach seinem Tod im Januar 2010 wurde Doktor Kramer neben seiner Frau auf den Friedhof der Gemeinde bestattet.

Die Zweite Gemeinde existierte offiziell 78 Jahre.